4 · Azur


»Kiro? Bist du noch dran?«

»Ja, hast du was rausgefunden? Erzähl schon!«, drängelte er, während er sich immer unbehaglicher in diesem Zimmer fühlte.

»Könnte schon sein. Pass auf! Chronos stammt ja aus der griechischen Mythologie. Das letzte Wort des Textes ist aber Latein. – Speculum heißt übrigens Spiegel. Das könnte irgendwie auch erklären, warum bei ›griechisch-römisch‹ kein Bindestrich, sondern ein Gleichheitszeichen steht. Du hast doch gesagt, dass in dem Raum ein Spiegel ist, oder? Schau mal, ob du da was entdecken kannst, das weiterhilft.«

» ›griechisch-römisch‹ ist doch auch ein Stil beim Ringen. – Er schrieb ja: ›Stil‹. Also was soll ich jetzt machen? Den Spiegel auf die Matte pinnen? Ich kann nichts Besonderes erkennen. Er ist in tausend Teile zerbrochen. Sieht auch weder römisch, noch griechisch aus. Warte mal kurz ­– nein hinter dem Rahmen ist auch nichts.«

»Hmm... Moment mal! Vielleicht bezieht sich das auch auf die Buchstaben. Die an dem Haus! ›Das was bleibt, gibt dir das Dingens‹ ... Das, was von denen geblieben ist, ist ›Chrono‹ und ›Chi‹ ... Ergibt aber, nach meinem Wissen, in Latein keinen Sinn. Chi hört sich für mich eher asiatisch an und was an das andere Wort erinnert, ist „corono". Das heißt so viel wie ... umgeben – umkränzen ... oder auch ... ha! KRÖNEN! Das passt irgendwie zur letzten Zeile. Ergibt das auf Griechisch für dich einen Sinn? Deine Mama hat dir doch so viel beigebracht.«

Kiros Augen strahlten plötzlich. »Du bist ein Genie! Ich könnt dich knutschen! Ich weiß, warum das Gleichheitszeichen da ist! Nicht entweder – oder, sondern beides!
Griechisch, steht Chrono für Zeit. Und das Chi ist ein Buchstabe! Unser X quasi. Und was ist das X im römischen? Die Zehn! Und jetzt rate mal, was auf der Uhr auf dem Kamin ist.«

»Römische Zahlen?«

»Genau! Und nicht nur das. Du, ich leg jetzt auf. Wenn noch was ist, ruf ich nochmal an. Aber ich glaube, ich hab die Lösung. Ich bin dann so in zehn – fünfzehn Minuten wieder da.« Kiro wartete keine Antwort ab, sondern legte einfach auf. Zu neugierig war er jetzt, ob er richtig lag.
Er ging zu der Kaminuhr und betrachtete noch einmal genau das Muster aus Lorbeerblättern, das golden das Ziffernblatt einrahmte. »Das ›Ding‹, ist definitiv diese Uhr«, sprach er zu sich selbst. »Was verging, ist die Zeit! – umkehren – hm...«

Die Uhr war etwa bei dreizehn Minuten nach Eins stehen geblieben.
Er drehte den Minutenzeiger langsam auf die römische Zehn zurück und hielt die Luft an. Aber auch nach einigen Sekunden passierte noch immer nichts.
Kiro hatte noch eine Idee. Er drehte den Minutenzeiger solange zurück, bis der Stundenzeiger auf der Zehn ankam. Aber auch dann geschah nichts. Beide Zeiger auf der Zehn. ­– Nichts.
Ihm fiel dann aber die letzte Zeile des Rätsels wieder ein. »Benutze das Signum eines Königs. – Eine Krone? Hier gibt's doch aber keine Krone ... Kränzen! Kranz! Oh, danke Tessi! Wenn ich dich nicht hätte ...«
Nun umfasste er den Lorbeerkranz, der die Uhr umkränzte und er ließ sich drehen. Er war nicht verwundert, jetzt auch ein kleines, eingraviertes Symbol darauf zu entdecken, das einen winzigen Totenkopf zeigte.
Nicht die Zeit war es, die verging, sondern das Leben selbst.
»Die Vergänglichkeit des Lebens«, flüsterte er.
»Und ich ... kehre sie um«, fügte er noch poetisch hinzu, während die Drehung des Ornaments den kleinen Totenschädel über dem X platzierte.
Sofort durchfuhr ihn ein eisiger Schauer. Er fühlte sich auf einmal beobachtet. Kiro drehte sich herum und blickte in den nun völlig intakten Spiegel. Nicht, dass er jetzt wieder heile war, ließ ihn fasziniert darauf zuschreiten, sondern die Person, die ihn daraus beobachtete. Kiro schaute Kiro an. Kein Zweifel, dass er es war.
Aber der Spiegel-Kiro sah merkwürdig aus. Er machte haargenau dieselben Bewegungen, hatte seine Kleidung an, auch der Hintergrund stimmte. Wie man es halt von einem Spiegelbild erwartete.
Es war etwas in seinem Gesichtsausdruck. Anders als Kiro, der eher verunsichert, schüchtern und ahnungslos dreinblickte, hatte dieser Zwilling einen harten, stählernen und irgendwie wissenden Ausdruck auf seinem Gesicht. Mit jedem Schritt, den sich die beiden näherten, alterte sein Abbild. Aber dessen Augen leuchteten mit jedem Jahrzehnt, das in Sekunden verflog, immer heller, immer blauer. Als sie nur noch Zentimeter von dem Glas getrennt waren, konnte Kiro die wilden blauen Flammen in den Iriden seines Gegenübers erkennen und wurde innerlich unheimlich ruhig. Dann zog der alte Mann langsam einen vergilbten Briefumschlag aus seiner Tasche und hielt ihn dem Jungen hin.
Als Kiro nach unten blickte, hatte er nun selbst diesen Brief in der Hand.
Dann stand er wieder ganz allein vor einem vor langer Zeit zerbrochenen Spiegel; las die Worte auf dem Brief.

~ Einzig dem Schlichter ~

~ azur ~

Ihn zu lesen, sollte er jedoch keine Zeit bekommen.
Sein Handy klingelte.
Tessa.

»Beeil dich! Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Sie ist einfach umgekippt und reagiert auf nichts mehr.«

Kiro sah sich noch einmal hektisch in dem Raum um. Entschied, den Mantel mitzunehmen. Er konnte auch noch etwas bedeuten. Er zog ihn an und knautschte den Brief in eine der Taschen, rannte wieder nach unten und steckte die Klaue in die andere. Draußen packte er sich noch die zurückgelassenen Tüten und spurtete zurück zu Tessa und Neko.


* * *


»Gut, dass du wieder da bist. Ich bekomm sie nicht mehr wach! Eben haben wir noch ganz normal geredet, dann war sie plötzlich einfach weg.«

»Hat sie dir erzählt, was wir jetzt genau mit dem Teil hier machen sollen?«

Dem völlig entgeisterten Mädchen schwenkte jetzt ein seltsames Objekt vor der Nase, das für sie aussah wie aus einem Horrorfilm. »Nimm das eklige Ding weg! Ja, hat sie. Wir hatten vorhin noch eine andere Idee, die auch helfen könnte. Zwei Fliegen mit einer Klappe ... Wir müssen aber zu mir rüber!«

»Ist mir ehrlich gesagt auch lieber. Meine Eltern könnten jeden Augenblick zurückkommen.«

Kiro nahm die bewusstlose Neko auf den Arm und Tessa schnappte sich, angeekelt mit zwei Fingern, die finstere Waffe. Zusammen verließen sie das Haus und liefen zu Tessa nach nebenan. Kiro war in Richtung der Haustür unterwegs.

»Nicht rein! Nach hinten in den Garten!«

An der gepflasterten Fläche zwischen den alten Apfelbäumen sah Kiro die Feuertonne schon von weitem. Er konnte sich denken, was seine pyromanisch veranlagte Freundin vorhatte. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Während Tessa in den Schuppen ging und einige Utensilien zusammensuchte, legte Kiro die Kleine in einem der Liegestühle ab und machte sich daran, die Tonne mit Papier und Kleinholz zu füllen.
Als Tessa zurückkam, war Kiro auf Knien schon dabei, die schwächliche Flamme anzupusten, die er entfacht hatte.

»Weg da!« Mit nur einer Sekunde Vorwarnzeit, kippte sie den Inhalt eines Benzinkanisters auf das Holz. »So, macht man Feuer!«

Die Stichflamme tauchte den gesamten kleinen Obstgarten in ein warmes, helles Orange. Die Beiden schmissen noch einige größere Bretter und dicke Äste hinterher. Sicher war sicher! Denn immerhin hatte es schon eine Weile stark geregnet.

»Und was jetzt?«, fragte Kiro.

»Das Ding ausglühen. Geh mal beiseite!« Tessa hatte bereits die große Spitzhacke in der Hand, mit der sie nun gezielt ein Loch in die Seite der Feuertonne schlug. »Ich habe da schon einen Plan. Schieb die Kleine weiter ans Feuer!«

In solchen Situationen war Kiro immer schon froh gewesen, dieses Mädchen zu kennen. Egal wie viel Panik und Chaos um sie herum herrschte, sie schien immer einen kühlen Kopf bewahren zu können; immer einen Plan B, C und D parat zu haben. Er beneidete sie dafür.

Sie hatte sich zwei klobige Bauhandschuhe angezogen. Mit der Klaue auf ihrem Schoß saß sie nun auf einem Baumstumpf und entfernte mit einer großen Feile die Widerhaken von ihr. Als sie fertig war, hielt sie das Stück musternd vor die Brillengläser und fuhr mit dem Finger über die scharfe Sichelkante. »Perfekt!«, war ihr fachmännisches Urteil. Sie stand auf und schob das Spitze Ende in das quadratische neue Loch der mittlerweile glühenden Stahltonne.

»Jetzt du!« Sie blickte Kiro ernst an. »Ich ... kann das definitiv nicht. Oh Gott ...«

»Und du meinst, ich kann das so einfach? Ich soll das jetzt wieder in sie reinstecken, wenn ich das richtig deute.«

»Ja! Aber sie hat gesagt, es muss in ihr abkühlen. Irgendwie auch logisch. Wenn das flüssige Zeug dann wieder kalt ist, wird es daran haften bleiben, denk ich. Dann wieder rausziehen.«

Während sie darauf warteten, dass sich das rettende Werkzeug stark genug erhitzte, rückten sie zusammen an Nekos Seite. Kiro strich ihr ängstlich-liebevoll über die langen schwarzen Haare. Tessa nahm eine der kleinen kühlen Hände und wärmte sie zwischen den eigenen. Dabei sah sie Kiro in die Augen und entdeckte kleine Tränen darin. Sie wusste, dass er solche Momente hasste. Stille Momente, in denen seine Gedanken immer anfingen, laut zu schreien. Sie unterbrach die stummen Schreie einfach. »Hey, die Kleine wird schon wieder. Wir sind doch da; haben einen Plan. – Sie mag dich übrigens sehr. Und sie spürt doch, dass du da bist. Rede einfach mit ihr! Musst dir nicht blöd vorkommen oder so. Das hilft.«

Kiro schwieg.
Die Stimmen in seinem Inneren schrien bereits zu laut, als dass er Tessas Worte dazwischen noch heraushören konnte. Stattdessen begannen seine Hände zu zittern, als er die nun glühende Waffe des Exsecutors anstarrte. Seine Atmung wurde mit einem Male rasend schnell. Er riss Tessa einen der Lederhandschuhe aus der Hand und sprang auf, zog die Klaue aus der Tonne und stand jetzt mit wütend gesenkten Augenbrauen vor Neko. »Worte helfen nichts!«
Dann rammte er ihr entschlossen das Objekt in die Brust. Es fühlte sich für ihn an, als würde er das wehrlose kleine Wesen einfach töten. Gegen diesen Gedanken konnte er sich nicht wehren. Die Stimmen in seinem Kopf, die ihn Feigling und Mörder nannten, bestärkten ihn in diesem Gefühl noch. Woher sollte er denn auch wissen, ob das hier tatsächlich funktionierte? Er wurde immer wütender. Wütend auf sich selbst! Weil er ein Feigling war! Und jetzt vielleicht auch noch ein Mörder.
Ja, die Stimmen hatten schon zu oft recht gehabt ...
Das Flammenkind atmete plötzlich panisch ein; bäumte sich kurz auf, aber sackte sofort wieder zusammen. Das war zu viel für Kiro.
Er flüchtete in eine dunkle Ecke des Gartens und hockte sich mit gesenktem Kopf und den Händen vor den Ohren auf die nasse Erde.
Er wollte allein sein, mit diesen schrecklichen Gedanken; nicht ansehen müssen, was er vielleicht getan haben könnte. Geistesabwesend tastete er in der fremden Manteltasche nach einem Taschentuch. Aber das Einzige, das er darin finden konnte, sollte ihm die Tränen weit besser trocknen können.

»Kiro, du musst wieder herkommen! Ohne dich schaffe ich das nicht.« Doch Kiro blendete gerade seine gesamte noch existente Welt um ihn herum aus. »Komm her und hilf mir!« Sie packte mit dem anderen Handschuh das abgekühlte Ding und zog daran, so fest sie konnte.
»Sei kein Feigling! Immerhin hast du mich da mit reingezogen.«
Von Kiro kam keine Reaktion. Erst als Tessa wildentschlossen einen Fuß gegen den Brustkorb des kleinen Mädchens stemmte, bekam sie die Klinge mit einem fiesen Reißgeräusch wieder aus ihr heraus. Allein schleppte sie das Flammenkind zur Tonne. Obwohl sie sich dabei die Arme verbrannte, hob sie Neko über den Rand und ließ sie, so sanft es ihr möglich war, in die lodernde Glut fallen.
Ein paar Minuten lang beobachtete sie fasziniert das Flammenkind, wie es da so regungslos im Feuer hockte und völlig unversehrt blieb, während ihre verbliebene Kleidung in Rauch und Flammen aufging.
Jetzt nahm sie kleine Zuckungen unter dessen Lidern wahr.
Die Kleine schien zu träumen.
»Ein gestörter, surrealer Anblick. Aber auch irgendwie süß«, dachte sich Tessa. Dann schien sich Neko, mit angezogenen Beinen und Armen, tatsächlich in die Glut zu kuscheln. »Kiro! Ich glaube es funktioniert!«
Als sie sich nach ihm umdrehte, erschrak sie. Er stand bereits einen Schritt hinter ihr. Kaum hatte sie sich von dem kleinen Schock erholt, wurde sie schon von der nächsten nicht zu erahnenden Situation überwältigt.

Kiro nahm sie in den Arm und drückte sie so intensiv an sich, dass sie fast keine Luft mehr bekam. »Es tut mir leid. Alles was zwischen uns war, was hier grade geschieht ... und das, was noch passieren wird. Verzeihst du mir?« Er wollte sie gar nicht mehr loslassen, doch ihm war gewiss, dass er das schon sehr bald tun müsste.

Tessa war verwirrt. Sie wusste nicht, was er damit sagen wollte, aber seine lang ersehnte Nähe und diese unerwartete Geste ließen ihr Herz wild klopfen. Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, schloss genussvoll ihre Augen und erwiderte die Umarmung jetzt kräftig.
»Ich verzeihe dir, alles was du willst.«

Kiro hingegen sah nur ausdruckslos in die Flammen. Er löste seinen Griff, um mit einer Hand unbemerkt hinter ihrem Rücken über die scharfe Metallkante der rostigen Tonne zu fahren. Dann nahm er das Stück Papier aus der anderen zwischen die blutigen Finger und ließ es ins Feuer herabschweben. Erst auf den Füßen des Flammenkindes angekommen entzündete es sich. Neko öffnete müde die Augen.

Während der auffrischende Wind die Glut wieder anfachte, verbrannte auch das allerletzte Wort des Briefes und zwang den Flammen sein eigenes gespenstisches Blau auf.

Azur.

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